„Die fabelhafte Welt der Anette Leupold“

Einführung zur Vernissage „Sehen“
Galerie Turm2 G. Wicke, 25. Mai 2018

von Meggie Hönig M.A.

„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit anderen Augen zu sehen.“

Mit diesen Worten des französischen Autors Marcel Proust möchte ich Sie, meine Damen und Herren, zur heutigen Vernissage sehr herzlich begrüßen. Und ich freue mich, dass ich heute versuchen darf, Ihnen die fabelhafte Welt der Anette Leupold nahe zubringen. Begeben wir uns zusammen auf Entdeckungsreise.

Von den massenhaft auf die Schnelle überall und wahllos geknipsten Fotos, von diesen Schnappschüssen, die mit einem zweiten Klick sofort auf facebook & Co. katapultiert werden, unterscheidet sich die „Kunst als Fotografie“ – oder die „Fotografie als Kunst“ – ganz fundamental. Denn sie braucht Zeit und Raum. Beim Entstehen – und beim Wahrgenommenwerden. „Jeder kann knipsen. … Aber nicht jeder kann beobachten. Photographieren ist nur insofern Kunst, als sich seiner die Kunst des Beobachtens bedient. … Auch die Wirklichkeit muss geformt werden, will man sie zum Sprechen bringen.“ (Friedrich Dürrenmatt)

Die Frage, wann Fotografie Kunst ist und wann nur ein Schnappschuss, ist heute so aktuell wie nie und wird – teilweise ziemlich rigoros und gnadenlos polemisch – auf zahllosen Plattformen im Netz diskutiert. Das zwingt jeden Bildermacher dazu, ständig zu hinterfragen, was er sich und den Betrachtern seiner Bilder erzählen will, welche Geschichten für ihn erzählenswert sind und wo er den Stoff dafür findet. Denn längst geht es der Fotografie nicht mehr um Authenzität im Sinne von objektiver, unmanipulierter Wirklichkeit, um Sachlichkeit, um Beweiskraft. Sondern vielmehr um das Sichtbarmachen einer subjektiven Wahrnehmung, um das Erschaffen einer eigenen künstlerischen Wirklichkeit.

Anette Leupold nennt ihre Bilder Foto-Grafiken. Als Fotografik bezeichnet man „fotografisch erzeugte Bilder, deren Bildgestaltung und Bildwirkung vorwiegend auf grafischen Elementen beruht.“ Das können sogenannte normale Fotos sein, in denen Flächen, Linien, Strukturen oder Farben das Bild beeinflussen, das können auch Fotos sein, die im Nachhinein durch fototechnische Manipulation verfremdet sind.

Beide Gestaltungstechniken benutzt Anette Leupold, jeweils in unterschiedlicher Ausprägung. Erst 2012 hat sie damit begonnen. Was sie auf die Idee brachte, kann sie heute nicht mehr genau sagen. Muss sie auch nicht, ihre Bilder erklären es selbst am allerbesten.

Mit einer handlichen Digitalkamera ausgerüstet, sicher alles andere als eine Profikamera, geht sie genau dorthin, wo Spaziergänger eher Beklemmung als Entspannung spüren, wo andere wegschauen, wenn sie es denn könnten, an diese Orte nämlich, die eher gemieden werden, an Unorte, an „abgewrackte Stellen“, wie sie sagt. Orte, die objektiv hässlich sein mögen, die aber Anette Leupold gerade, weil sie das Gegengewicht zu einem normüblichen Schönheitsempfinden sind, auf- und herausfordern, um sie neu und anders wahrzunehmen.

Abgerissene, mehrfach überklebte Plakate an überfrachteten Litfasssäulen, verwahrloste Baustellen mit zurückgelassenem Unrat, Bauzäune, graue, mit wildem Graffitti besprayte Strom- oder Telekomschaltkästen, dunkle Bahnunterführungen, auf Abholung wartende Sperrmüllhaufen, Mülltonnen, Glascontainer, beschmierte Wände leerstehender Häuser und Hallen, aufkleberübersäte Ampelmasten, Verkehrsschilder, Straßenlaternen, Regenrinnen … – all diese Orte, die Anette Leupold in Hannovers Straßen, gleich um die Ecke, anziehen, erzählen ihre eigenen Geschichten. Sie geht mit langsamen Schritten, verlangsamt auch den Blick, um ganz genau hinschauen zu können, zieht Fernes ganz nah heran. Und dann sieht sie plötzlich Dinge, die dem normalen, schnell weiterhuschenden Blick verborgen bleiben – oder die gar nicht da sind. „Sehen“ heißt die Ausstellung – genau darum geht es, um die Kunst zu sehen.

Das kennt fast jeder: Man sieht plötzlich ein Gesicht, wo eigentlich keines ist. Können Sie sich erinnern? Das ist Ihnen doch sicher auch schon oft passiert. Sie sehen in den Wolken plötzlich ein Ungeheuer, erkennen an einer Hausfassade ein grimmiges Gesicht oder sehen ein Auto lächeln. Dieses Phänomen, das die Fachsprache Pareidolie nennt, beschäftigt die Forscher nicht erst in jüngster Zeit. Verantwortlich für das „Wolkensehen“ ist die Autovervollständigung in unserem Gehirn: Um all die Eindrücke, die täglich auf uns einwirken, verarbeiten zu können, ist es darauf ausgerichtet, Dinge wiederzuerkennen. So können wir Situationen schneller einordnen und in Sekundenbruchteilen reagieren. Wahrnehmungspsychologen erklären den Effekt so: Für den Menschen und seine sozialen Interaktionen sei es extrem wichtig, Gesichter auch als solche zu erkennen. „Für sozial organisierte Lebewesen ist es das wichtigste Konzept zum Andocken an ‘meinesgleichen’.“ Da Gesichter für das Zusammenleben so wichtig sind, entscheidet das Gehirn recht großzügig, ob ein bestimmter Anblick als Gesicht zu werten ist. „Die Aktivierungsbedingungen für das uns biologisch vorgegebene Konzept ‘Gesicht’ sind sehr breit angelegt und umfassen geometrische Konstellationen, die nur sehr grob mit einem wirklichen Gesicht Ähnlichkeit haben.“

Anette Leupold hat die Zoomfunktion an ihrer Kamera erst spät entdeckt, per Zufall, aber sie braucht sie nicht. Sie zoomt sich mit den Augen an die Dinge heran. Sie starrt sie an, lange und konzentriert. Und findet so genau den Ausschnitt, das Motiv, das sie aus allernächster Nähe, als Close-up, zurückanstarrt. Dass sie dazu mitunter auf den Knien rutscht, auf dem Boden sitzt oder sich verrenkt, hindert sie nicht, verwundert höchstens die Neugierigen, die sie dabei beobachten, misstrauisch den Kopf schütteln oder sie für jemanden von der Hausverwaltung, vom Ordnungsamt oder einer Versicherung halten. Erst wenn Anette Leupold ihr Gesicht, ihr Fabelwesen, oder sogar eine ganze Geschichte im Ausschnitt der Kamera gesehen hat, erst dann – klick – drückt sie auf den Auslöser. „Das menschliche Gehirn ist ein Geschichtenerzähler. Es erzählt uns Geschichten darüber, wie die Dinge sind oder wie sie sein könnten“ – Worte aus Morgan Freemans Wissenschaftsserie „Mysterien des Weltalls“.

Jetzt beginnt der zweite Teil der „Bild-Schöpfung“, nämlich die digitale Bildbearbeitung. Vor allem wird all das, was ihre Geschichte stört, entfernt. Anette Leupold nennt sich selbst „Grand Master of Bereichsreparaturwerkzeug“. Mit dem Reparaturpinsel und anderen digitalen Werkzeugen malt sie Hässliches weg, mal mehr, mal weniger heftig, lässt Farbiges strahlen, intensiviert Strukturen – und verwandelt alltäglich Graues zu bildhafter Schönheit. Erinnern Sie sich noch an die entsetzlichen Unorte, an denen Anette Leupold diese Schönheiten findet? „Wer ein Herz für die Schönheit hat, findet Schönheit überall.“ (Gustav Freytag)

Dass Anette Leupold so viel Schönheit in Alltäglichkeiten sieht, hat sogar mich überrascht. Wir sind uns vor 15 Jahren zum ersten Mal begegnet, aber in einem Umfeld, das absolut nichts mit Kunst zu tun hatte. Ich habe sie als Systemadministratorin eines großen Touristik-Unternehmens in Hannover kennengelernt. Das aber ist nur die eine Seite, vielleicht die, die man aus der Ferne sieht. Wenn sie mehr Nähe erlaubt, erfährt man, dass sie schon im Alter von 16 Jahren Malkurse bei Gabriele Wicke besucht hat. Mit 19 begann sie an der Fachhochschule Hannover Freie Kunst zu studieren, 4 Semester lang – eine wilde Zeit mit WGs, Discos und allem was dazu gehört. Freie Kunst, vielleicht zu frei! Sie entschied sich, lieber Grafik Design zu studieren und schloss mit dem Diplom ab. Weitere berufliche Stationen kann man auf der Website von dandelion nachlesen, dem Computer-, Service- und Beratungsunternehmen, das sie im Jahr 2003 zusammen mit ihrem Partner gründete.

Heute zeigt sie uns, als Künstlerin, dass selbst in der geringsten Sache Unbekanntes steckt. Ganz bewusst verzichtet sie auf Bildtitel, auch wenn sie die Namen ihrer Werke kennt. Es ist viel spannender, eigene Assoziationen über unsere Erinnerungen wachzurufen. „In allem liegt Neuland, weil wir gewohnt sind, unsere Augen nur mit Erinnerung an das zu nutzen, was vor uns über den Gegenstand unserer Betrachtung gedacht wurde.“

Woran erinnert Sie denn zum Beispiel dieses Bild? Was sehen Sie – oder Sie? Und was wohl hat Anette Leupold gesehen, als sie genau dieses Motiv an einer Litfasssäule fand?
Jeder sieht und denkt an etwas anderes …

Lassen wir unserer Fantasie freien Lauf und sehen wir „Wolken“ auf all diesen vielen brillianten Fotoabzügen. „An extreme closeup is exciting, mysterious, dramatic, intimate, detailed, perspective-changing, and disorienting“, schreibt ein Fotoblogger. Wagen wir uns nah dran oder bleiben wir in der Ferne. Sie sind aufregend, geheimnisvoll, dramatisch, verwirrend, die Bilder. Finden wir also unseren eigenen Blickwinkel, um das geheimnisvoll Schöne zu entdecken.

So finden wir – gemäß dem Eingangszitat aus Marcel Prousts Roman „À la Recherche du temps perdu“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – nicht nur eine neue, hinter der Oberfläche verborgene Welt, sondern auch ein Stück der verlorenen Zeit für uns zurück.
„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit anderen Augen zu sehen.“

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